Es war ein warmer Freitag im August, zwei Tage nach ihrem sechzehnten Geburtstag, als sie der Enge entfliehen musste, die sie in ihrem Elternhaus umgab. Sie fühlte, dass es so nicht weiter gehen konnte in ihrem Leben. Als sie ihren Rucksack gepackt hatte und in der Mitte ihres Zimmers stand um sich noch einmal umzusehen, schwang die Türe auf und ihre Mutter stand vor ihr. Gott wie sehr Amélie es hasste, wenn sie einfach so, ohne wenigstens anzuklopfen, ihr kleines Reich erstürmte, doch auch damit sollte es ja nun bald vorbei sein. Sie warfen sich eisige, durchbohrende Blicke zu, doch gerade als ihre Mutter zu einem erneuten, verbalen Rundumschlag ansetzen wollte, griff Amélie sich ihren Rucksack, stürmte an ihrer Mutter vorbei und Sekunden später war nur noch das Zuschlagen der schweren Haustür zu hören. Endlich frei, dachte sie sich, als sie die Straße hinunter lief, endlich frei. Amélie wusste zwar nicht genau wohin sie wollte, sie wusste nur, dass es so wie es war nicht hätte weitergehen können. Bei ihren Eltern, das wusste sie, hätte sie nicht mehr lange durchgehalten, dafür kam sie einfach zu wenig klar, mit der beengten Spießigkeit, den krampfhaften versuchen ihrer Eltern, vor den Nachbarn das Bild der harmonischen Familie in der Vorstadt aufrechtzuerhalten.
Sie lief schneller und schneller, bis sie beim Bahnhof angekommen war, löste sich ein Ticket und ließ sich mit einem tiefen Seufzer in den Sitz des Zuges fallen, der sie in ein neues Leben bringen sollte und würde.
Gedanken schossen ihr wie Projektile durch den Kopf. Wohin? Was tun? Hört dein Plan jetzt schon auf? Seit Jahren träumte sie von diesem einen Moment, dem Moment in dem sie sie sein konnte. Als sich der Zug in Bewegung setzte spürte sie wie eine Last von ihren Schultern fiel. Bald würde sie in der Stadt sein, dem Ort vor dem sie ständig gewarnt wurde, dem Ort der von ihren Eltern so sehr verteufelt wurde, dem Ort, von dem sie sich so sehr viel erhoffte.
Sie war sich unsicher, als der Zug am Hauptbahnhof hielt, was sie tun sollte, doch wich diese Unsicherheit recht schnell der Neugier. Als sie aus dem Zug ausstieg, Schwang ihr eine Welle Stickiger und Schwüler Luft entgegen, vermischt mit Gerüchen aus einem nahe gelegenem Imbiss und der sich direkt daneben befindlichen Toilette. Es war ein heißer Tag und die Sonne strahlte vom Himmel als sie aus der Bahnhofshalle ins Freie trat. Die Luft flimmerte über der Straße und es roch nach Abgasen, der vorbeifahrenden LKW. Amélie schaute sich um und entdeckte einen kleinen Parkplatz mit einem Baum und einer maroden Parkbank. Es zog sie an diese kleine Oase inmitten der Hitze der Großstadt. Als sie sich gesetzt hatte fiel ihr Blick auf die Unmengen an benutzten Spritzen, Zigarettenstummeln, Scherben und leeren Bierdosen. Als sie ihren Kopf wieder hob, sah sie in die Augen eines Mannes mit langen, ungepflegten Haaren, einem Mantel der wohl mal beige gewesen sein mochte, nun aber eindeutige Flecken hatte und eher grün war. Sie sah seine blitzenden Augen, während er sie zahnlos angrinste. Sein Atem schlug ihr entgegen, eine Vermischung von Alkohol, kaltem Schweiß, Urin und fauligem Gestank. War das nun die Welt in welche sie fliehen wollte? Der Mann stammelte irgendwelche unverständlichen Worte und Amélie merkte, dass ihr schlecht wurde und sie sich übergeben müsste, wenn sie noch weiter vor ihm sitzen würde. Sie stand auf und lief weg.
Der Mann sah sie verständnisvoll an und sagte, dass er das für sie regeln könnte. Er habe genug Platz zu Hause und für eine Nacht könne sie bei ihm bleiben. Amélie flogen all die Gedanken durch den Kopf, man dürfe nicht mit Fremden mitgehen und sie erinnerte sich all der Horrorszenarien, von denen sie gehört hatte, doch war es ihr egal und sie ging bereitwillig mit.
Sie fuhren ein Paar Stationen mit der U-Bahn und als sie ausstiegen und die Treppe nach oben gingen dämmerte es bereits. Doch war es immer noch verdammt heiß. Als sie aus dem U-Bahnschacht ins Freie traten, sah Amélie nur Hochhäuser um sich herum und Hörte die stimmen der Menschen die an ihnen vorbei drängten, die in einer ihr fremden Sprache sprachen. Irgendwie wurde ihr Mulmig zumute, doch sie ließ sich weiter von dem Mann weiter in Richtung einem der Hochhäuser ziehen. Schließlich angekommen schloss er die Tür auf und sie gingen hinein. Im Flur war es Drückend warm, der Putz blätterte von den Wänden, die Aufzugtür war mit Graffiti beschmiert und die Knöpfe waren angekokelt. In einer Ecke des Flures, unter den unzähligen Briefkästen war eine Pfütze auszumachen und Amélie wollte sich nicht vorstellen was das sein könnte. Der Mann, dessen Namen sie immer noch nicht wusste, ging in Richtung der Treppe und nuschelte, dass der Fahrstuhl kaputt sei. Also gingen sie die Stufen hinauf bis in den dritten Stock. Der Mann schloss wiederum eine der Wohnungstüren auf und schob Amélie hinein, so schnell, dass sie nicht lesen konnte welcher Name neben der Klingel stand. Die Tür fiel ins Schloss und Dunkelheit umgab sie. Es roch merkwürdig. Ein Geruch wie sie ihn nie zuvor gerochen hatte. Unbekannt aber nicht schlecht.
Sie wurde weiter in die Wohnung gedrückt, durch einen kurzen Flur in ein düsteres Wohnzimmer. Es hatte einen dunkelbraunen Teppich, eine dunkle Tapete, keine Bilder an den Wänden und die Jalousien waren herunter gelassen. Amélie konnte in einer Ecke eine schwere Ledercouch ausmachen in einer anderen Ecke stand irgendwas großes, Gerüstartiges, was aber schwer zu erkennen war, da es durch ein schwarzes Tuch verhüllt wurde. Der Mann bedeutete ihr sich aufs Sofa zu setzen, einer Deutung, die keinen Widerspruch duldete und welcher sie sofort nach kam. Während sie sich nun in die Kissen fallen ließ, wusste sie instinktiv dass sie einen Fehler begangen hatte, aber genauso gut auch, dass es nun kein zurück mehr gab. Er stellte sich vor sie, doch sein Gesicht blieb im Schatten verborgen, und fragte sie was sie denn jetzt haben wolle. Da sie nicht recht wusste, was er nun von ihr wollte und sie wohl auch ziemlich fragend dreinschaute fragte er sie erneut, doch dieses mal etwas aggressiver. Amélie bekam Angst. Was sollte sie tun, wie hier wieder raus kommen? Sie sagte ihn, dass sie es nicht wisse, dass sie ja schließlich keinerlei Erfahrung in diesen Dingen hatte.
Er sagte, dass er gleich zurück sei und verschwand hinter einer Tür, vermutlich in der Küche, denn Amélie hörte Gläser klappern. Kurz darauf war er zurück und hielt zwei Gläser mit einer klaren Flüssigkeit in den Händen und sagte, sie sollte erst mal etwas trinken, nach all der Aufregung. Seine Stimme hatte einen fast zärtlichen, väterlichen Ton. Ihr schossen Horrorgeschichten in den Kopf die sie gehört hatte, von Mädchen die in der Disko K.O. Tropfen in Getränken hatte und dergleichen, doch hatte sie auch zu viel Angst das angebotene zu verweigern, also Trank sie. Ihr Hals brannte und kurz verspürte sie einen Würgereiz, der jedoch schnell wieder verging. Dann fragte er erneut, was sie denn haben wolle, doch wieder wusste sie nicht, was sie wollte, sagen sollte. Sie merkte, dass sie stotterte und zögerlich sprach, was ihn anscheinend anmachte, denn er setzte sich neben sie und sie konnte seinen Atem auf ihrer Haut spüren, als sie ihm sagte dass sie nicht genau wüsste, was es gäbe und sie irgendwas wollte um einfach erst mal allem entfliehen zu können. Er schenkte ihr nach aus einer Flasche ohne Etikett, die er scheinbar aus dem Nichts hervor gezaubert hatte. Sie trank. Diesmal ohne Würgereiz.
Als sie wieder aufwachte wusste sie nicht wo sie war. Sie versuchte ihre Arme zu bewegen doch es ging nicht. Genauso wenig wie ihre Beine. Es dauerte einen Moment, bis sich ihre Augen an das Dunkel um sie herum gewöhnt hatten, da fiel ihr wieder ein was sie gemacht hatte, wo sie sich befand. Sie versuchte ihren Kopf zu drehen, doch auch das war ihr nicht möglich. Sie atmete Schneller und Schweiß lief ihr über die Stirn. Irgendetwas befand sich in ihrem Mund, etwas hartes, rundes. Vielleicht ein Tischtennisball oder so dachte sie. Sie ließ ihre Augen durch den dunklen Raum schweifen, versuchte sich zu orientieren. Dort war die Ledercouch auf der sie gesessen hatte. Davor lag ein Haufen Stoff. Ihre Klamotten. Panik überkam sie, doch als sie versuchte zu schreien, kam kein Ton über ihre Lippen weil der Knebel alles erstickte. Sie fühlte etwas warmes an ihrem Bein hinunter laufen, als ihre Blase nachgab. Dann hörte sie seine Stimme, fragend, ob seine Prinzessin wieder wach sei. Seine Prinzessin, soweit ist es nun schon, schoss es ihr durch den Kopf. Sie Fühlte Hände an ihrem Hinterkopf und er sagte ihr, dass er jetzt den Knebel entfernen würde, wenn sie nur ruhig blieb. Sie wusste jetzt, dass sie in dem Gerüst gefesselt war, welches sich zuvor noch unter dem Tuch befunden hatte. Wie spät war es? Wie lange war sie Bewusstlos gewesen? Was hatte er mit ihr angestellt? Langsam kam das Gefühl in ihrem Körper wieder zurück. Sie Spürte etwas hartes in ihrem Nacken, die Fesseln an Hand- und Fußgelenken, Durch wie von einer Schraubzwinge an ihren Schläfen. Druck an der Stirn. Er hatte ihr einen Zopf gemacht. Sie versuchte sich zu entspannen doch ihr Körper blieb einfach stehen. Dann fühlte sie, wie ihr der Knebel aus dem Mund rutschte. Sie wagte nicht zu sprechen. Dann Hörte sie ein Klicken und merkte, dass der Druck in ihrem Nacken stärker wurde. Sie stöhnte leise. Er sagte, dass ihm gefalle wie sie stöhnte, doch das bekam sie nur halbwegs mit, zu groß war ihre Angst. Bitte Töte mich einfach dachte sie, doch das wäre zu leicht und zu unspektakulär für ihn. Er wollte sie leiden sehen, seine Macht ausspielen, sie zum schreien bringen und sie für die Schreie bestrafen. Wieder hörte sie etwas Klicken, doch diesmal tiefer unten als das letzte mal und sie Spürte etwas kaltes, hartes, metallenes, das sich langsam aber bestimmt und immer weiter an ihrem Hintern bewegte, bis sie schließlich Aufschrie, weil sie es in sich spürte. Lachen. Dann ein Schlag ins Gesicht und der Befehl still zu sein. Wieder Fühlte sie etwas an ihrem Bein herunter laufen, doch sie war sich nicht sicher was es war, doch bekam sogleich die Antwort von ihm, dass es Blut sei und das gut für sie, schließlich wäre das ein gutes Gleitmittel. Sie schloss die Augen dann Fühlte sie etwas an ihren Lippen. Die kalte Kante eines Glases und wieder irgendeine Flüssigkeit in ihrem Mund. Diesmal jedoch brannte es nicht im Hals als sie es herunter schluckte. Stille. Dunkelheit.
Als sie wiederum erwachte war ihr Kalt und ihr Kopf dröhnte. Sie öffnete die Augen und sah die Blätter eines Baumes im gelblichen Licht einer Straßenlaterne. Amélie dachte zu träumen, bewegte ihre Arme und Beine. Keine Fesseln mehr die sie hielten. Kein dunkler Raum, kein Atmen einer anderen Person, dafür entfernte Geräusche von Autos und das Quietschen einer Bahn. Sie versuchte Mühsam sich aufzurichten und es kam ihr vor wie eine Ewigkeit, biss sie schließlich saß und sich umsehen konnte. Vor sich sah sie ein Klettergerüst mit einer Rutsche, das von Sand umgeben war. Darum Standen Bäume, wie der unter dem sie sich befand. Ein Spielplatz, in einem Kleinen Park oder so. Dann sah sie ein Stück weiter die Scheinwerfer von Autos, die eine Straße langsam entlang fuhren, dahinter Einfamilienhäuser. Sie versuchte aufzustehen, doch die Schmerzen in ihrem Unterleib waren zu stark und sie legte sich wieder hin. Langsam kamen auch die Erinnerungen zurück. Es war nicht das erste mal dass sie Aufwachte. Nein, sie war schon vorher ein Paar Mal erwacht. In der Wohnung. Immer gefesselt. Sie erinnerte sich an den Schein der Kerze, deren Wachs ihr auf den Körper getropft war, an Schläge, das Seil was ihr die Brust abschnürte, die Metallenen Gegenstände die sich in sämtlichen ihrer Körperöffnungen befunden hatten, Die Spritze mit Brei, mit der sie gefüttert worden war. Und sein Lachen. Wie lange war sie bei ihm gewesen? Wie war sie in diesen Park gekommen? Sie erinnerte sich an ihre Eltern und schließlich liefen ihr bei diesen Gedanken Tränen über das Gesicht.
Es wurde heller am Himmel und die Autos auf der Straße wurden mehr. Wieder versuchte sie aufzustehen und diesmal gelang es ihr auch. Sie wankte ein Paar Schritte zu einer Bank und ließ sich langsam auf sie nieder senken. Trotz der morgendlichen Kühle die sie umgab schwitzte sie. Sie fühlte das feuchte, kalte Holz an ihren Beinen. Amélie fuhr sich mit der Hand über ihren pochenden Kopf. Wo waren ihre langen Haare? Sie erfühlte etwa zwei Zentimeter lange Haare wo einst ihr langer Zopf war. Sie sah sich weiter um, die Sonne stieg höher am Himmel. Es Kam ihr vor wie gestern, dass sie abgehauen war und doch färbten sich die ersten Blätter an den Bäumen. Die Sonne blendete sie, als sie erneut Aufstand und langsam in Richtung der Bahngeräusche ging.
Sie vergrub ihre Hände in ihren Jackentaschen und Fühlte dass in der einen Geld war. Sie zog sie heraus und hielt einige Münzen sowie drei 50 Euro Scheine in der Hand. Woher Kam das Geld? Doch sie verwarf diesen Gedanken schnell wieder, denn während sie weiterging wurden auch die Geräusche der Bahn lauter, bis sie schließlich vor einem U-Bahnhof Stand. Sie war offenbar noch in der gleichen Stadt, doch am anderen Ende, wie sie dem Netzplan entnehmen konnte. Amélie löste sich eine Fahrkarte und für mit dem Nächsten Zug Richtung Hauptbahnhof. Dort angekommen Schlug ihr der fast schon vertraute Geruch entgegen, den sie bei ihrer ersten Begegnung schon in der Nase hatte. Als sie ausstieg, stand sie vor einem geschlossenem Kiosk, in dessen Scheibe sie sich zum ersten Mal wieder wie in einem Spiegel sah. Bis auf ihre Haare und dass sie etwas dünner war, sah sie so aus wie immer. Keine wunden im Gesicht, aus denen sie ihr Blut geschmeckt hatte, nicht einmal ein blauer Fleck war zu sehen. Offenbar hatte ihr Peiniger sie noch länger gefangen gehalten, ihr aber nichts mehr getan, was Verletzungen hervorgerufen hätte, oder sie gar gepflegt.
Und wieder einmal stand sie an der gleichen Stelle, wusste nicht was noch wohin. Sie verließ den Bahnhof, wie bei ihrem ersten Besuch und setzte sich wieder auf die Bank unter dem alten Baum. Auch hier hatte sich kaum etwas verändert. Sollte sie nach Hause fahren? Ihren Eltern alles erzählen? Die würden ihr doch niemals glauben dachte sie. Vielleicht suchte auch die Polizei nach ihr, doch sah sie ja schon einigermaßen verändert aus, sodass die sie bestimmt nicht erkennen würden. Das war ihre Chance dachte sie, ein wirklich neues Leben zu beginnen. Schlimmer konnte es nicht mehr werden, dachte sie, schloss die Augen, legte den Kopf in den Nacken und genoss die warmen Stahlen der Herbstsonne auf ihrem Gesicht.
Nach einigen Minuten Öffnete sie die Augen, weil Stimmen näher gekommen waren. Vor ihr standen zwei Männer, einer groß gewachsen und Kräftig, mit Blonden kurzen Haaren und einem Trainingsanzug bekleidet, der andere etwas kleiner, mit einem abgerissenen Parka, langen ungepflegten, teilweise verfilzten Haaren und einem Bart. Sie unterhielten sich angeregt und scheinen Amélie gar nicht zu beachten. Der große redete auf den kleinen ein, irgendwas von Geld und Zeug. Sie schloss wieder die Augen und fühlte sich im Kopf seltsam befreit, genoss einfach nur das Dasein und die Sonne. Dann merkte sie plötzlich, dass sich jemand neben sie setzte. Sie Öffnete die Augen und sah, dass es der Blonde war, der sie nun freundlich ansah und sie Fragte ob sie etwas bräuchte. Sie fühlte sich an das letzte Mal erinnert als sie hier saß und ihr Herz blieb fast stehen. Der Mann fragte ob sie Methaddict wolle, er könne ihr was besorgen zu sechs Euro pro Pille. Was soll’s dachte sie, warum nicht? Sie hatte zwar keine Ahnung um was es ging, aber sie hatte ja Geld und warum sollte es schlecht sein. Amélie verlangte drei Stück und der Unbekannte meinte dass sie warten solle, er sei in zehn Minuten wieder zurück. Er verschwand Richtung Bahnhof und sie lehnte sich wieder zurück und schloss die Augen.
Es wunderte sie etwas, dass sie trotz Allem, was ihr widerfahren war, so ruhig war, aber dann erinnerte sie sich an eine Aufnahme im Fernsehen, die gezeigt hatte, wie ein Mann von einem Auto überfahren und danach aufgestanden und weggelaufen war. Begründet hatte der Sprecher das mit dem Adrenalinschub im Körper. Vielleicht war das bei ihr ähnlich, dachte sie.
Nach der versprochen Zeit war der Mann zurück, die gab ihm das Geld und er ihr die Pillen. Original verpackt. Dann ging er seiner Wege und Amélie blieb noch einen Moment sitzen, bis auch sie aufstand und in den Bahnhof ging, sie hatte Durst. In einem kleinen Kiosk kaufte sie sich eine Flasche Wasser und verließ den Bahnhof wieder in die Andere Richtung als sie ihn betreten hatte. Sie befand sich am Anfang einer breiten Fußgängerzone, die viele teure Geschäfte und Boutiquen säumten. Sie ging diese Straße etwas entlang, Schaute in die Fenster der Läden, bis sie an eine weitere Bank kam und sich setzte. Sie wollte eine der Pillen probieren, drückte sie aus dem Blister und spülte sie mit Wasser herunter. Amélie erwartete Sofort eine Wirkung, wie sie es von der Flüssigkeit des anderen Mannes kannte doch nichts passierte. Also stand sie auf und ging weiter die Einkaufsstraße entlang, die sich langsam mit immer mehr Menschen füllte, die einkauften, sich um sich kümmerten und sie gar nicht weiter beachteten. Auch nicht, als sie kreidebleich wurde, auf die Knie Sank und sich in hohen Bogen erbrach. Scheinbar war es das normalste der Welt. Amélie wischte sich den Schweiß von der Stirn und erbrach sich erneut. Sie wusste nicht was los war doch im nächsten Augenblick fühlte sie sich wie in einer Eihülle, wie in Watte gepackt, wie im Himmel. Dieses Gefühl musste es sein, das war es was sie wollte. Sie kam sich vor als träumte sie, als ging sie auf Wolken, nachdem sie wieder aufgestanden war als wäre nichts gewesen und weiter durch die Straße spazierte. Langsam verzog sich der Schweiß von ihrer Stirn, ihr Hals beruhigte sich und auch ihr Magen war wieder im Normalmodus. Sie bewegte ihre Hände und es kam ihr kurz vor als wären sie nicht teil ihres Körpers und dass sie sie schneller bewegte, als ihr Gehirn den Befehl dazu verarbeiten konnte. Die Welt flog an ihr vorbei wie in Zeitlupe und sie fühlte sich unangreifbar, stark und geborgen. Nichts konnte ihr etwas anhaben, keine Gedanken, keine Erinnerungen und erst recht keine anderen Menschen. Sie Fühlte eine Hand auf ihrer Schulter, drehte sich langsam um und sah in das Gesicht eines Mädchens.
Sie war ungefähr so alt wie Amélie, hatte rot gefärbte Haare, trug einen grünen Parka und einen schwarz-weißen Schal. Sie stellte sich ihr als Marie vor und fragte ob alles in Ordnung sei, da sie gesehen hatte, wie Amélie sie erbrochen hatte. Marie hatte große braune Augen und sah in das ausdruckslose Gesicht mit den Abwesenden grünen Augen Ameliés, die ihr versicherte, dass alles gut sei. Marie fragte nochmal nach ob sie sich sicher sei, was Amélie etwas genervt bejahte, sich umdrehte und wegging und Marie allein stehen ließ.
Es dämmerte bereits, als Amélie nach all dem Spazieren durch die Stadt Hunger bekam und sich an einer kleinen Bude einen Döner holte. Während sie weiterging und Aß merkte sie, dass sie Müde wurde vom gehen und setzte sich schließlich auf die Treppe vor einem Hauseingang und war auch sofort eingeschlafen. Sie schlief so tief und Fest wie kaum jemals zuvor und wachte erst wieder auf, als sie durch das lärmen eines Müllwagens geweckt wurde. Die Sonne war bereits aufgegangen doch war ihr schrecklich kalt. Sie fühlte sich schwach und matt, trotz des guten Schlafes, aber dann erinnerte sie sich an das Methaddict in ihrer Jackentasche, nahm eine der Tabletten und nach einiger Zeit ging es ihr wieder besser und besser, bis sich schließlich wieder das Gefühl des Vortages einstellte, dass sie unangreifbar war. Auch übergab sie sich diesmal nicht nochmal Sie dachte nach, was sie jetzt tun sollte, ging aber erstmal in eine Bäckerei um sich ein Brötchen zu kaufen. Auf dem Bäckerei Tresen lag eine Tageszeitung, die ihr verkündete, dass es der sechste Oktober war. Also war sie fast zwei Monate gefangen gewesen dachte sie, der Gedanke irritierte oder verstörte oder interessierte sie aber nicht weiter und so schnell er gekommen war, verschwand er auch wieder. Als sie ihr Frühstück aufgegessen hatte, kam sie an einer Kneipe vorbei, aus der laute Musik und viele Stimmen drangen. „24 Stunden offen“ stand an der offenen Tür. Ein Vorhang verbarg den Blick nach innen, doch Amélie war neugierig, wer wohl so früh am Tag dort in dieser Kneipe war und wie ein solches Lokal wohl aussah von innen, also schob sie den Vorhang beiseite und trat ein.
Der Gastraum war dunkel und nur von einigen wenigen Lampen an den Wänden erleuchtet. Die einzigen zwei wirklich hellen Lichter waren die Jukebox, aus der Punkrock dröhnte und eine Lampe am Tresen. An den Tischen saßen und Standen einige Männer und Frauen, mit bunten Haaren und vier Jungs mit kahlgeschorenen Köpfen, Jeans und schweren Stiefeln standen um einen Kickertisch, spielten und unterhielten sich dabei sehr laut. Alle anwesenden hatten kleine Bierflaschen vor sich, scheinbar war dies das einzige zu erhaltende Getränk hier. Amélie ging an den Tresen und setzte sich auf einen freien Barhocker. Hinter der Bar stand eine Frau mit braunen Haaren und einem Gepunkteten Kleid, wie Amélie es aus Filmen kannte, die in der Fünfziger Jahren spielten. Die Frau fragte, was sie gern trinken würde und sie bestellte sich ebenfalls ein Bier, wie alle anderen es auch tranken. Sie sah den Jungs beim Kicker spielen zu und bestellte bald ein zweites und ein drittes Bier. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass sich jemand neben sie setzte, doch nicht wer es war, bis sie ein Tippen auf ihrer Schulter spürte und die Frage ob sie neues Zeug brauchte. Es war der Mann, der ihr am Vortag schon was verkauft hatte. Amélie überlegte nicht lange und bestellte wieder drei Tabletten bei ihm. Diesmal hatte er sie gleich dabei und gab sie ihr. Er fragte ob sie noch Pep wolle und auch da willigte sie ein ohne eigentlich zu wissen, was sie kaufte. Aber, so dachte sie, konnte auch das nicht schlecht sein. Sie gab ihm Geld und er ihr ein kleines Tütchen mit weißem Pulver, Dann sah er sich noch einmal in der Kneipe um und verschwand wieder. Amélie ging auf die Toilette und versuchte sich auf dem Klodeckel eine Line zu legen, wie sie es im Fernsehen gesehen hatte. Allerdings hatte sie weder eine EC-Karte, noch einen Ausweis oder etwas anderes, was sie dazu hätte benutzen können. Doch dann dachte sie, dass sie das Zeug bestimmt auch schlucken könnte. Sie gab sich etwas auf die Hand und leckte das bitter schmeckende Pulver ab. Dann ging sie zurück in die Kneipe und setzte sich wieder an den Tresen und bestellte ein neues Bier. Nach einiger Zeit spürte sie, dass ihre Hände kribbelten und dann das Gefühl aus ihren Fingerspitzen wich. Gleichzeitig merkte sie, dass ihre anderen Sinne, ihre Augen und Ohren viel stärker wurden. Ihr wurde warm und sie knirschte mit den Zähnen. Sie fühlte, dass sich jeder Muskel in ihrem Körper anspannte, sie Fühlte sich stärker als zuvor, weg War die Wattewelt um sie herum, stattdessen dachte sie, dass sie jede Bewegung in doppelter Geschwindigkeit durchführte. Trotz des schummrigen Kneipenlichtes konnte sie schärfer sehen als je zuvor. Sie trank ihr Bier in einem Zug aus und bestellte sich sofort ein neues. Sie sprach lauter als sonst, es ging ihr nicht schnell genug. Als sie das neue Bier auch ausgetrunken hatte stand sie von ihrem Hocker auf, sie merkte dass sie wankte, doch sie ging hinaus. Die sonne stand hoch am Himmel und ihr fehlte jedes Zeitgefühl. Amélie schloss die Augen, um den gleißenden Sonnenstrahlen zu entgehen, doch öffnete sie sofort wieder, weil ihr schwindelig vom Alkohol wurde. Sie ging ein Paar Schritte zu einer Straßenlaterne und hielt sich an ihr fest. Einige Male atmete sie tief durch und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Sie hatte noch das Methaddict und dachte, dass sie das vielleicht wieder etwas runter bringen würde. Sie griff in ihre Tasche, holte eine der Tabletten hervor und schluckte sie runter. Dann ging sie weiter, bis sie an einen kleinen Park kam und sich dort auf eine Bank setzte. Ihre Glieder wurden Schwer, als das Methadon seine Wirkung entfaltete. Es war kalt geworden, doch Amélie fühlte sich als stünde sie in Flammen. Sie zog ihre Jacke aus und legte sie neben sich. Sie hatte großen Durst doch fühlte sich nicht in der Lage aufzustehen und zu laufen. Auch als ihr Körper rebellierte und sie sich erbrach, schaffte sie es nicht sich wenigstens nach vorne zu beugen. Als sie merkte, dass ihr T-Shirt nass wurde, merkte sie auch die Kälte. Sie Zitterte, doch schaffte es nicht sich die Jacke wieder anzuziehen. Die Sonne war mittlerweile fast untergegangen und noch immer saß sie regungslos da, den Kopf nach hinten geworfen, sah sie aus wie eine lebensgroße Puppe. Lediglich das Zittern verriet, dass sie lebte. Vor ihrem Mund stiegen kleine Dampfwolken auf. Mit jeden ihrer flachen Atemzüge eine weitere. Es war dunkel, als sie sich zur Seite fallen ließ, sich aus ihrer Jacke ein Kopfkissen baute und einschlief.
Es war eine Gruppe von Kindergartenkindern, die einen Ausflug machten, die sie am nächsten morgen antippten. Doch ihr steif gefrorener Körper zeigte keine Regung mehr.